Chronist des Spießertums

1963 spielten die Brüder Ray und Dave Davies ihre ersten Songs ein und erfanden als The Kinks eher beiläufig den Heavy-Rock. Rod Stewart gehörte anfangs noch zu ihnen. Rechtzeitig zum 60. Jahrestag ihres Welthits “You Really Got Me” könnte die legendäre britische Band wieder zusammenkommen. Von Olaf Neumann

1963 ist das Jahr der Revolution. Englische Nachwuchsmusiker in Straßenkleidung beginnen, sich von ihren Anzug und Schmalztolle tragenden US-Vorbildern wie Elvis Presley radikal zu lösen. Sie entwickeln aus dem amerikanischen Rock’n‘Roll und dem britischen Skiffle einen eigenen Musikstil. Es ist die Geburtsstunde der Beat-Musik mit Protagonisten wie Paul McCartney, John Lennon, Mick Jagger, Keith Richards, Roger Daltrey oder Pete Townshend.

Der introvertierte Ray Davies (*1944) und sein laut-fröhlicher Bruder Dave (*1947) leben zusammen mit ihren Eltern Fred und Annie sowie ihren sechs älteren Schwestern in einem Drei-Zimmer-Haus im Londoner Arbeiterstadtteil Muswell Hill. Rene will ihren Bruder Ray zu dessen 13. Geburtstag mit einer spanischen Gitarre überraschen, doch am selben Tag stirbt sie im Partypalast Lyceum tanzend an einem Herzfehler.

Am Valentinstag 1963 spielen Ray Davis, Dave Davies, Pete Quaife und John Star – damals noch unter dem Namen The Ray Davis Quartet – in der Hornsey Town Hall ihren ersten wichtigen Gig. Zu der Zeit feilt Ray an seinem frühen Song “You really got me” herum, der später zu einem Welthit werden soll. Sie nennen sich The Ramrods bzw. The Ravens, bevor sie zu den Kinks werden. Kinky bedeutet in etwa „versaut“, „schrullig“, „ausgeflippt“, aber auch „pervers“. Auch der Student Rod Stewart gehört eine Zeit lang zu der Gruppe, aber Ray kann ihn nicht ausstehen.

Zu dem Zeitpunkt tragen die Youngster ihre Haare bereits länger als die Beatles, spielen lauter als die Rolling Stones und ziehen sich verrückter an als The Who. Ray Davies kann nicht nur ausdrucksstarke, melodische Songs über den englischen Alltag schreiben, sondern weist sich auch als intelligenter Chronist des bürgerlichen Spießertums und politischen Geschehens aus. Der amerikanische Plattenproduzent Shel Talmy beginnt 1963 mit der Band zu arbeiten, während der Konzertpromoter der Beatles, Arthur Howes, ihre Live-Shows plant.

Rays kleiner Bruder Dave steht meist in seinem Schatten, weshalb hinter den Kulissen ein permanenter Führungskrieg abläuft, der öfter in Handgreiflichkeiten gipfelt. Ihren Frust entladen die Streithähne in neuartigen Gitarren-Songs wie „You Really Got Me“. Die rifflastige Nummer mit den genial-simplen Akkorden und dem frechen Gesang kracht im Sommer 1964 in die jungfräuliche Rockszene und wird heute als Urknall für Hardrock, Metal und Punk gesehen. Es ist der erste Welthit für die Kinks, dem noch zahlreiche folgen sollen.

„Mir fiel „You Really Got Me“ bereits mit 15 Jahren ein und zwar größtenteils am Piano“, erinnert sich Ray Davies im Interview mit dem Autor dieser Zeilen. „Ich glaube, es war mein fünfter Song überhaupt. Eigentlich sollte es ein Blues-Jazz-Stück werden. Als die Nummer schließlich im Sommer 1964 rauskam, klang sie anders als alles Dagewesene. Ein schmutziger, höllischer Rocksong mit verzerrten Gitarren zu einer Zeit, als die ganze Welt nach schönen Beatles-Harmonien verlangte. Niemand hatte uns gesagt: ‚So, Leute, nun wollen wir mal den Verzerrer erfinden‘. Es hat sich einfach so ergeben. Diesen speziellen Gitarrensound haben mein Bruder Dave und ich selbst kreiert. Ich glaube, Jimmy Page war damals ein bisschen neidisch auf uns.“

In den USA, wo man die Kinks anfangs noch mit offenen Armen empfängt, sind sie 1965 schon wieder weg vom Fenster, nachdem sie wegen rüpelhaften Benehmens mit einem vierjährigen Auftrittsverbot belegt werden. In diesem Sinne preist Metallica-Gitarrist James Hetfield den verwegenen und rebellischen Querulanten Ray Davies in einer Laudatio zum 25-jährigen Bestehen der Rock’n’Roll Hall Of Fame als einen der ersten Punks. Der Geehrte selbst ist damit nicht ganz einverstanden. „Ich glaube eher, mein Bruder Dave war der erste Punk. Er hatte als junger Mann eine sehr punkige Attitüde. Ich auch, aber ich habe das nicht an die große Glocke gehängt. (lacht) Daves große Klappe brachte uns eine Menge Ärger ein.“

Die Flut von Hits setzt sich bis Anfang der 1970er Jahre trotz Ray Davis‘ schwerer Drogensucht fort, allerdings sind die neuen Songs eingebettet in komplexe Konzeptalben und Rockopern. Diese tragen rätselhafte Titel wie „Village Green Preservation Society“ oder schlicht „Arthur“ und gelten heute als Meilensteine. In den Songs befasst Ray Davies sich auf bittere Weise mit dem Weihnachtsfest, mit dem historischen England der Tanzsaal-Ära oder dem Fall des britischen Weltreichs. Über einen Transvestiten in einer Bar in Soho singt er schließlich in seinem erfolgreichsten Titel „Lola“, eine Schunkelnummer, dessen Refrain in England jeder Pub-Besucher mitgrölen kann.

Heute gelten The Kinks neben den Beatles, den Rolling Stones und The Who als eine der erfolgreichsten britischen Gruppen der 1960er Jahre. Ihre unzähligen Hits wie „Lola“, „Dandy“, „Sunny Afternoon“, „Waterloo Sunset“ oder „Dedicated Follower Of Fashion“ gehören zu den wichtigsten Songs der Popgeschichte und wurden von Bruce Springsteen, Bon Jovi, Van Halen und Metallica gecovert. Es sind raffinierte Lieder für Feinschmecker mit Melodiephrasen, die sofort ins Ohr gehen. Die Band hatte also nicht nur den harten Rock drauf, den sie eigentlich erfunden hatte. Obwohl sie zu ihrer Blütezeit musikalisch auf der obersten Stufe waren, hatten The Kinks eine Menge Pech, weil Ray ein Kontrollfreak war und sich dauernd mit seinem Bruder Dave fetzte. Nichtsdestotrotz ist es ihm 2015 gelungen, das Kinks-Musical „Sunny Afternoon“ auf die Bühne zu bringen. Es wurde mit vier Oliver-Awards prämiert, der höchsten Auszeichnung im britischen Theater.

30 Jahre nach dem letzten Studioalbum der Kinks wollen die ungleichen Brüder endlich wieder gemeinsam Songs schreiben und vielleicht sogar auf Tour gehen. Ein größeres Geschenk kann Ray Davies sich zu seinem 80. Geburtstag im kommenden Jahr nicht machen. „Streit generiert Energie“, sagt der kauzige Commander of The British Empire heute. „Diese kann durchaus positiv sein. Ich habe mich darüber mal mit Noel Gallagher von Oasis unterhalten. Ich sagte ihm, eines Tages würde er ganz bestimmt wieder mit seinem Bruder arbeiten. Da antwortete er: ‚Yeah‘“.

 

 

Olaf Neumann